Kapitel 6: Viele Grüße aus Old Deutschland

Lukas riss die Tür weit auf und rannte nach draußen. "Vera! Wo bist du?! Komm her! Du musst uns sagen, wie du in unseren Chat gekommen bist! Du darfst da nicht einfach so ran!" Als Vera immer noch nicht auftauchte, rief er: "Komm raus aus deinem Versteck! Das ist nicht mehr lustig!"
Vanessa kam auch raus. "Hast du sie?", fragte sie.
"Nein!", rief Lukas panisch. "Such sie doch auch!" Er fuchtelte wild mit den Armen, wie immer, wenn er aufgeregt war.
"Gut. Teilen wir uns auf. Du suchst um das Haus herum, ich auf der Straße", schlug Vanessa vor.
"Nein, ich will auf der Straße! Machen wir es umgekehrt!", panikte Lukas.
Einige erfolglose Minuten später ging er zu Vanessa, die gerade den Mülleimer für Altpapier untersuchte. "Und, hattest du Erfolg?", fragte sie und begann, den Bio-Müll unter die Lupe zu nehmen.
"Nein! Vera ist nirgendwo!", kreischte Lukas schweißgebadet.
Auch Vanessa begann zu schwitzen. "Ich hab auch nicht die kleinste Spur von ihr", sagte sie nervös.
"Dann suchen wir eben zusammen", beschloss Lukas.
"Wo ist eigentlich Lisa?", fragte Vanessa.
"Oh nein! Die ist bestimmt auch abgehauen!", sagte Lukas. "Meinst du, sie weiß, wo Vera steckt?"

"Wie fandest du's?", fragte Christina Greta, als sie beim Hotel angekommen waren.
"Gut", sagte Greta. "Morgen werde ich bestimmt Muskelkater haben."
"Ich auch", sagte Christina.
Die beiden liefen zu ihrem Zimmer.
Greta machte die Tür auf, zog ihre Schuhe aus und ließ sich auf das Sofa plumpsen.
Christina machte die Tür zu. Sie wollte gerade ihre Schuhe ausziehen, als sie bemerkte, dass sie gar keine anhatte. "Greta", sagte sie, "ich hab meine Schuhe vergessen. Ich geh sie noch mal schnell holen."
Greta hielt sie zurück. "Bloß nicht! Es ist schon viel zu spät!"
"Aber sonst werden sie geklaut", sagte Christina.
Greta gab nach. "Na gut. Geh. Aber komm so schnell wie möglich zurück!"
Christina nickte. "Klar. Ich geh dann mal." Sie verließ das Hotel und bemerkte nicht, dass Greta sie verfolgte. Da draußen ist es unsicher!, dachte diese. Wer weiß, was für Straßentiere da um diese Uhrzeit herumstreunen? Es ist viel sicherer, wenn ich heimlich mitkomme.
Sie folgte Christina in den Palmenwald.
Der Himmel war rötlich; zwei kleine violette Wölkchen zogen an ihm vorüber.
Die Sonne verschwand am Horizont.
Christina lief zur Stelle, an der sie ihre Schuhe und Socken vergessen hatte, und zog sie an.
Plötzlich hörte Greta ein knackendes Geräusch. Sie brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass es von der blonden Frau mit dem blauen Hosenanzug stammte. "Geben sie es zu, dass sie uns bespitzeln!", rief sie und schaltete die Taschenlampen-Funktion von ihrem Handy an. Der Lichtstrahl fiel auf das Gesicht der Frau. "Und sagen sie mir, warum sie uns beobachten!", befahl Greta.
Christina, die Gretas Krach bemerkt hatte, drehte sich um und ging auf die beiden zu. "Jona!", rief sie überrascht, als sie das helle Gesicht der Frau mit dem Hosenanzug erblickte.
Jona sank auf die Knie. "Es tut mir alles so leid!", schluchzte sie. Als sie Gretas verständnislosen und irritierten Blick bemerkte, schniefte sie: "Ich wollte dir nichts böses tun. Aber ich wollte wissen, ob du noch sauer auf mich bist."
"Hat sie das jetzt zu mir oder zu dir gesagt?", fragte Greta Christina.
"Zu mir", sagte Christina. Dann ging sie auf Jona zu und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. "Alles gut, ich bin nicht mehr sauer auf dich. Lass mal."
Jona stand auf. "Okay. Ich hab das übrigens schon gemerkt. Du hast nämlich gar nicht mehr darüber gesprochen."
"Erklärt mir das mal", sagte Greta. "Warum war Christina sauer auf Jona und woher kennt ihr euch?"
"Können wir das vielleicht woanders besprechen?", fragte Jona. "In eurem Hotel oder so? Es ist schon richtig spät."
Greta nickte eifrig. "Ja, auf jeden Fall. Ich will gar nicht wissen, was für wilde Tiere hier nachts herumwuseln."
"Du kannst bei uns im Hotel übernachten", bot Christina Jona an.
"Willst du auf dem Sofa schlafen?", fragte Greta sie.
Jona nickte. "In welchem Hotel wohnt ihr eigentlich?", fragte sie.
"Äh... Das weiß ich gerade gar nicht", gab Greta zu. "Christina, weißt du, wie es heißt?"
"Es heißt: Das supercoole Hotel!", beschloss Christina.
Die drei machten sich auf den Weg. Als sie ankamen, brannte nur noch in der Lobby und in ein paar Zimmern ein wenig Licht.
"Wow, echt stylisch hier", staunte Jona. "Im supercoolen Hotel würde ich auch gern wohnen."
Greta steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch, drehte ihn ein paar mal, nahm ihn wieder heraus und machte die Tür wieder zu. Sie, Jona und Christina zogen ihre Schuhe aus (Greta und Christina stellten ihre Krücken ab) und setzten sich auf das Sofa.
"Greta, du weißt doch, dass ich, bevor ich eine WG mit dir gegründet hab, studiert hab, oder?", fragte Christina.
"Ja, das weiß ich", sagte Greta. "Du musstest das Studium aber schnell wieder abbrechen, weil du noch zu schlecht Deutsch konntest und erstmal noch einen Deutschkurs machen musstest. Nach dem Deutschkurs hast du das Studium aber nicht weitergemacht und stattdessen eine Ausbildung zur Bäckereiverkäuferin gemacht. Währenddessen lerntest du mich kennen. Als du eine Weile als Bäckereiverkäuferin gearbeitet hast, hattest du gerade so viel Geld, um immer weniger Stunden arbeiten zu müssen und mit mir eine WG zu gründen. Und was war jetzt mit Jona?"
"Sie hab ich beim Studium kennengelernt", sagte Christina.
"Leider konnten wir uns aber nur sehr schlecht verständigen, da Christinas Deutschkenntnisse damals noch sehr schlecht waren", erzählte Jona. "Deshalb musste sie, wie du schon gesagt hast, das Studium abbrechen und einen Deutschkurs besuchen. Sie hätte ihn aber auch besuchen können, ohne das Studium abzubrechen. Das hab ich ihr gesagt. Sie wollte das aber nicht einsehen." Sie blickte zu Christina. "Erzähl du weiter."
"Als sie mir das mit dem Deutschkurs gesagt hat, rastete ich aus. Ich hatte mich nämlich schon schon abgemeldet und wollte das nicht noch mal ändern", sagte Christina. "Ich hab sie angeschrien und durch die ganze Uni gejagt. Sie war nirgendwo vor meiner Wut sicher." Sie und Jona mussten lachen.
"Damals fand ich das gar nicht lustig", sagte Jona.
Christina fuhr fort: "Ich bin total durchgedreht. Ich hab Jona die ganze Zeit verfolgt und wenn sie nicht mehr konnte hab ich... Was hab ich dann nochmal gemacht?"
"Du hast auf spanisch geflucht", kicherte Jona. "Das hörte sich so komisch an."
"Oh!", sagte Christina plötzlich. "Du hast dich total verändert! Damals waren deine Haare noch hellbraun!"
"Ja, ich hab sie mir blond gefärbt", sagte Jona.
"Und deine Augen waren auch anders! Grün, glaube ich", sagte Christina.
"Ich hab mir blaue Kontaktlinsen reingemacht", sagte Jona. "Sie gefallen mir aber nicht so gut. Wahrscheinlich nehme ich sie bald auch wieder raus. Und was ist mit euren Körpern passiert? Ihr geht ja mit Krücken."
Greta warf Christina einen etwas verbitterten "Erzähl-du"-Blick zu.
"Na ja", sagte Christina. "Letztes Jahr hat eine böse Frau mit Vornamen Tatiana und mit Nachnamen Zibirskaja einen Mordversuch auf Greta verübt, weil sie irgendwie sauer auf sie war oder so. Ich hab's mir nicht gemerkt. Jedenfalls war das nach einer Geburtstagsparty in der WG vor einem Abgrund. Tatiana Zibirskaja wird übrigens immer Tanja genannt. Na ja, also. Tanja hat Greta in den Abgrund geschubst und gedacht, dass sie stirbt. Ich wollte dann mit Greta sterben und bin runtergesprungen. War schrecklich und tat sehr weh. Wir sind aber nicht gestorben und haben uns nur ganz viele Knochen gebrochen. Irgendwann haben uns irgendwelche Leute in das Krankenhaus gebracht und da wurden wir dann verarztet. Tanja wurde natürlich wegen Mord eingekertkert und ist dann ausgebrochen, weil so ein Aloscha Kuznetsov ihr geholfen hat. Der ist Safeknacker und Dieb."
"Boah!", rief Jona.
"Wollen wir jetzt schlafen?", fragte Greta.
"Ja", sagte Christina. "Ich bin müde."
"Ich auch", sagte Jona.
Bald darauf lagen Greta und Christina auf ihren Betten und Jona auf dem Sofa. Alle drei schliefen tief und fest.
Nach einigen Stunden brach der Morgen an.
Währenddessen aßen Julia und Lina schon bei Mark das Mittagessen: Nudeln.
Nach dem Mittagessen gingen sie raus und machten mit Linas Handy ein Selfie, das sie mit der Überschrift Viele Grüße aus Old Deutschland an die Hotelbewohner schickten.
Lina war sich sicher, dass dieses Selfie sehr wichtig war, denn lange würde sie in Deutschland nicht mehr bleiben. In wenigen Wochen würde sie nach China zu ihren Eltern fliegen. Und sie wusste nicht, ob sie wieder zurückkommen würde. Es war zwar sehr wahrscheinlich, doch sicher konnte sich Lina nicht sein.
"Und, freust du dich schon auf China?", fragte Julia plötzlich.
"Ja, am liebsten würde ich jetzt die Koffer packen", antwortete Lina. Sofort schweiften ihre Gedanken zurück an ihre Kindheit in China. Sie bildete sich ein, den wohlbekannten Geruch von Abgas und Zigarettenqualm wahrzunehmen. Ihr erschien ein Bild: die dicht befahrenen Straßen Chinas und über ihnen ein tiefblauer, wolkenloser Himmel. Lina meinte, das Hupen von Autos zu hören.
Das Bild verschwamm und ein neues erschien: das Zuhause ihrer Eltern. Automatisch änderten sich auch der Geruch und die Geräusche. Der wohlige Duft von Milchtee stieg Lina in die Nase und sie hörte rauschende Stimmen aus dem Fernseher.
Auch dieses Bild verschwamm. Nun sah Lina den Nachtmarkt. Überall wuselten Menschen mit Waren in Plastiksäcken herum und sahen sich die vielen Stände an, an denen Verkäufer standen und alle möglichen Lebensmittel und Tiere in engen Käfigen oder kleinen Kartons anboten. Mofas düsten durch die Gegend und die Menschenmasse musste ihnen ausweichen. Es roch nach Lebensmitteln, Plastiktüten, Zigarettenqualm und dem Abgas der Mofas. Lina bildete sich ein, das Gebrüll der Mofafahrer, die Werbung der Verkäufer und die von den Stimmen der vielen Menschen übertönte Musik aus Lautsprecherboxen zu hören.
Wieder verschwamm das Bild und ein neues erschien Lina: das innere eines Taxis. Lina sah einen Taxifahrer, der seinen Arm und seine Hand, in der er eine chinesische Zigarette hielt, über die Sitzlehne ausstreckte, während er tief ausatmete und dabei eine grässlich stinkende Tabakwolke ausstieß. Man hörte nur seine langgezogenen Atemzüge.
Das Bild des rauchenden Taxifahrer verschwamm und das von kostümierten Menschen, die in einer Art Parade hintereinander herliefen und dabei mit großen roten Fächern winkten, erschien. Neben ihnen auf einer kleinen Mauer saßen Menschen mit Instrumenten und musizierten.
Ein lautes Donnergrollen riss sie aus ihren Gedanken. Lina bemerkte, dass Julia und Mark schon drinnen waren, und lief schnell rein.

Karsten ging los. Schon bald hatte er das Hotel, in dem Lia und Runa wohnten, erreicht. Er drückte die Tür auf, lief eine Treppe hinauf und klopfte an die Tür zu Lia und Runas Zimmer.
Lia machte lächelnd auf.
Karsten betrat das Zimmer und entdeckte Runa. Als sie ihn entdeckte, rümpfte sie die Nase und schaute angeekelt drein. Miesepetrig fragte sie ihn: "Warum bist du hier? Wir brauchen dich doch gar nicht!"
"Ich wollte nur nochmal sichergehen, dass das mit Jenny wirklich keine Lüge war", sagte Karsten. "Sagt mir die Wahrheit. Seid ehrlich."
"Natürlich war das keine Lüge! Wir würden dich doch nicht anlügen!", sagte Lia empört.
"Na ja", sagte Runa. "Ich hätte dich vielleicht schon angelogen, aber es ist trotzdem ehrlich."
"Und jetzt muss ich noch was mit Lia besprechen. Bei dem Gespräch darfst du aber nicht dabeisein", sagte Karsten.
Runa drehte sich um, damit er nicht sehen konnte, wie ein schadenfrohes Grinsen über ihr Gesicht huschte. "Ist mir ganz recht! Dann muss ich deine Visage nicht länger sehen!" Bevor Karsten sie wegen der Beleidigung schimpfen konnte, verschwand sie schnell im Schlafzimmer und verriegelte die Tür.
Lia seufzte. "Ich weiß echt nicht, was Runa gegen dich hat", sagte sie.
"Egal", sagte Karsten. "Lass uns mit der Besprechung loslegen."
"Aber noch ganz kurz eine klitzekleine Frage", sagte Lia. "Wie findest du es, dass Jenny dich immer Karstie nennt?"
"Auf ungefähr so etwas wollte ich ja hinaus", sagte Karsten. Er schluckte und fuhr fort: "Ich habe schon schnell gemerkt, dass wir nicht zusammenpassen. Erstens: Sie nennt mich immer Karstie, obwohl ich das nicht mag; zweitens: Ich bin fest davon überzeugt, dass sie in kriminelle Machenschaften verstrickt ist; drittens: Ich finde sie tatsächlich total oberflächlich und eitel und bin seit einiger Zeit tatsächlich gar nicht mehr in sie verliebt." Das "Sie" sprach er mit einer besonderen Betonung aus. "Und deswegen, Lia", sagte er, "halt dich fest, habe ich jetzt ein Auge , halt dich bloß gut fest, auf, halt dich besser fest, wenn du es schaffst, sogar am besten, dich geworfen."
Lia, die sich unbewusst an ihm festgehalten hatte, wurde rot und stammelte: "Du hast also nur so getan, dass du sie liebst?"
"Ja", sagte Karsten ernst. "Und ich finde es auch richtig, richtig mies, dass sie dich immer eiskalt Lana-Viktoria nennt, obwohl es offensichtlich ist, dass sie das nicht tun soll. Und noch eine Info: Am Anfang war ich tatsächlich ein bisschen in sie verknallt, aber als wir dann zusammen waren, hat sich das schlagartig geändert." Er machte eine kleine Pause und sah Lia an, dann sagte er: "Und wenn sie wieder aus dem Gefängnis freikommt, werde ich knallhart mit ihr Schluss machen. Angesicht zu Angesicht!" Den letzten Satz schrie er beinahe und Lia merkte, wie in ihm ein gewaltiger Zorn auf Jenny heraufbrodelte. Und in ihr auch.
Plötzlich kam Runa ins Zimmer. "Das dauert mir hier aber zu lange! Was geht hier vor?", rief sie. Bevor Karsten und Lia etwas erwidern konnten, sagte sie zu Lia: "Lia, lass dich von diesem arroganten Karsten bloß nicht auf seine Seite ziehen!"
"Es ist nicht so, wie du denkst! Es ist ganz anders!", sagten Lia und Karsten wie aus einem Mund.
"Aha? Das versteh ich jetzt nicht. Ihr müsst mir das erklären", sagte Runa.
Lia und Karsten schilderten die Lage.
"Aber Lia, du hast nicht zufällig auch ein Auge auf Karsten geworfen, oder?", fragte Runa.
"Doch", sagte Lia selbstsicher. "Und das schon seit langem."
"Lia!" Runa rastete aus. Am liebsten hätte sie Lia den Hals umgedreht, so verzweifelt und wütend war sie, doch Lia war immer noch ihre beste Freundin.
Also wurden Lia und Karsten ein Paar und lebten zusammen glücklich bis an ihr Lebensende? Nein! Denn eines Tages kam Ivan, Tanjas Bruder mit der auffälligen Mütze, und Lia war in nullkommanix in ihn verliebt. Der Russe sah Tanja wie aus dem Gesicht geschnitten: rote Haare, blasse Haut, braune Augen,
ein roter Strichmund. Nur sein Stil war ganz anders: Statt einem schwarzen Sakko über einem pink-weiß gestreiften Hemd trug er eine braune Fellweste über einem roten Poloshirt, auf dem statt einem Polo-Logo ein kommunistisches Parteizeichen (ein Stern, unter dem ein Ährenkranz eine Sichel und einen Hammer umgab) prangte, und statt einem dunkelroten Rock hatte er eine abgenutzte Schlabberjeans an. Statt hochhackigen High-Heels trug er rote
Stiefel.
Karsten schien es so, als habe er Lia mit einer speziellen Technik verführt. Er nannte diese Technik Nixenwerwolf-Technik, da ihm irgendetwas sagte, dass das noch ein böses Ende geben würde. Warum er die Technik ausgerechnet Nixenwerwolf-Technik nannte, lag daran, dass Ivan sich seiner Meinung nach erstmal furchtbar bei Lia einschleimte (Nixe) und wenn sie ihn ansah oder zu ihm sprach, etwas tadelndes oder sogar böses zu ihr sagte (Werwolf). Noch etwas
gefiel Karsten an Ivan nicht: seine Stimme. Sie hatte etwas künstliches, fakes und Lia extra gefallen wollendes, aber auch zum Teil bösartiges an sich. Und natürlich gefiel es ihm auch nicht, dass Ivan ihm Lia wegnahm. Was führte er nur mit ihr im Schilde? Sie war eine Ukrainerin und er ein Russe, also musste er eigentlich böse Absichten haben.
Runa gefiel seine Stimme aus den selben Gründen auch nicht. Wohl oder übel verbündeten sich die beiden gegen Ivan, aber auch nur, weil sie ihn beide nicht ausstehen konnten, noch weniger als sich gegenseitig.
Leider konnte Lia ihn sehr gut ausstehen. Deshalb wollte sie sich mit ihm sogar treffen. Mit der Zeit wurden die Treffen mit Ivan immer häufiger, was Runa und Karsten so langsam auf die Nerven ging. Doch eigentlich waren die Treffen sehr spannend, vor allem das letzte: Zuerst machten Lia und Ivan einen Spaziergang am Strand. Danach gingen sie wieder ins Hotel, weil Lia auf die Toilette musste.
Während sie im Badezimmer war, bereitete Ivan ihr einen vergifteten Cocktail zu. Als sie wieder herauskam, befahl Ivan: "Trink das! Du musst, denn du hast Durst!"
"Nein, hab ich nicht!", protestierte Lia.
"Keine Ausreden! Du hast Durst!"
"Ich habe keinen Durst! Und außerdem sieht der Cocktail eklig aus!"
"Doch, natürlich hast du Durst! Jeder hat mal Durst! Und was kann ich schon dafür, wenn deine Zutaten für Cocktails eklig sind!"
Lia drehte sich um. "Früher warst du viel süßer. Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist!" Als sie sich wieder zu ihm drehte, sah sie, dass er eine Pistole in der Hand hatte. "Ivan!", rief sie. "Was soll das?"
"Ich will dich umbringen", sagte Ivan.
"Warum? Was hab ich dir getan?", schrie Lia entsetzt.
"Schau mich genau an, Swetlana-Viktoria. Schau mich genau an", kommandierte Ivan kühl.
"Ich heiße Lana-Viktoria!", rief Lia panisch.
"Nein, Swetlana-Viktoria. Den Namen Lana gibt es im ukrainischen nicht. Aber jetzt schau mich genau an. Genau!", fuhr Ivan sie an.
Lia sah ihn genau an. Und plötzlich wurde ihr klar, dass er nicht Ivan war. Denn Ivan gab es nicht. Sie riss ihm die Mütze vom Kopf und lange, rote Haare quollen daraus hervor und fielen auf ihre Schultern und ihr Gesicht, denn es war nicht Ivan, sondern eine sie. Mit Namen Tatiana Zibirskaja.
"Du bist nicht Ivan, sondern Tanja!", kreischte Lia fassungslos.
"Genau", bestätigte Tanja ungerührt. "Ich habe es doch gesagt, dass ich einen Racheplan schmieden werde. Aber du hast ihn mal wieder verhindert, und das wirst du teuer bezahlen!"
Runa und Karsten, die den Krach gehört haben, kamen herein.
"Hab ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass mit diesem angeblichen Ivan irgendwas nicht stimmt?", fragte Runa säuerlich. "Na schön, jetzt haben wir Tanja im Haus!" Sie ärgerte sich sichtlich.
"Ja, schön, nicht wahr? Jetzt habt ihr Tanja im Haus! Und die bekommt ihr auch nicht so schnell wieder raus!", meinte Tanja überflüssig, denn Karsten schubste sie aus der Tür und verriegelte diese sorgfältig.
Lia lächelte ihn dankbar an. "Danke, Karsten. Du warst unsere Rettung", sagte sie.
Doch Karsten verzog keine Miene.
Da fiel es Lia wieder ein: Sie musste sich ja noch bei ihm entschuldigen, weil sie ihn so überstürzt versetzt hatte. "Entschuldigung, dass ich dich so vernachlässigt habe", sagte sie. "Tut mir leid, ich konnte diesem vermeintlichen Ivan einfach nicht mehr widerstehen. Ich glaube, Tanja hat mich verführt. Bitte vergib mir."
"Okay, okay", grummelte Karsten.
Lia fiel ihm um den Hals.
Runa verdrehte die Augen. "Ihr habt mich vergessen. Ihr scheint ja nur noch rumzuknutschen. Braucht ihr mich überhaupt noch?"
"Klar", sagte Lia.
"Dann ist ja gut", sagte Runa. "Aber was soll ich machen?" ...

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