Kapitel 2: Alle mobben Vera
Greta, Christina und Paula saßen auf der kleinen Treppe zum Hotel. Genauer gesagt, Paula saß auf der Treppe und Greta und Christina saßen neben ihr in ihren Rollstühlen.
Paula starrte auf ihr Handy.
Greta erzählte Christina aus ihrer Kindheit an der Ostsee in der Stadt Danzig.
Christina hörte Greta zu und zeichnete auf einen Notizblock Strichmännchen, die Greta und die anderen Personen, von denen Greta ihr erzählte, sein sollten.
Plötzlich schrie Paula so laut, dass Christina der Bleistift aus der Hand fiel: "Guckt mal! Stella und Nek haben auf YouTube ein Video gepostet!"
Christina und Greta beugten sich über Paulas Handy.
Paula tippte auf das Video.
Stella und Nek erschienen auf dem kleinen Bildschirm. Sie kletterten auf eine Palme. Oben zogen sie Grimassen und aßen Bananen. "Wir sind Affen", sagte Nek.
"Das ist lustig!", sagte Christina.
"Finde ich auch", sagte Paula.
Tanja hob einen Ziegelstein auf. "Der kommt mir gerade wie gerufen! Das Glück verfolgt mich!", sagte sie und kicherte bösartig. Sie hielt noch einen Moment inne, um sicherzugehen, dass sie niemand sah, dann schleuderte sie den Ziegelstein mit voller Kraft duch das offen stehende Fenster. Sie verfehlte Lia um wenige Zentimeter. "Verdammt!", fluchte Tanja und raufte sich die Haare. Doch schon nach wenigen Sekunden hatte sie sich wieder beruhigt. Immerhin habe ich ihr gemütliches Sofa geschrottet!, dachte sie.
Plötzlich knallte etwas sehr hartes und schweres auf ihren Fuß und sie schrie laut auf. Es war der Ziegelstein. "So eine Frechheit! Lana-Viktoria wehrt sich!", zischte Tanja erbost.
Im selben Moment schleuderte ihr Runa einen Stuhl entgegen.
"Das werdet ihr bereuen!", rief Tanja. "Denn wenn ich einen Racheplan geschmiedet habe, werde ich mich rächen! Uaaah, ich spüre schon, wie eine schreckliche Rachsucht in mir hochsteigt! Nehmt euch in Acht!" Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und zeigte ihre langen, blutrot lackierten Fingernägel. Dann raste sie davon.
"Ey Lia, Tanja ist voll böse. Das ist voll neu für mich", sagte Runa.
Lia seufzte tief. "Russland gegen Ukraine", sagte sie und wandte sich ein wenig ab. Deutlich leiser fügte sie hinzu: "Tanja wird mich womöglich noch umbringen."
"Was?", rief Runa fassungslos und sah nicht, wie bittere Tränen über Lias Wangen liefen.
"Ich bin meines Lebens nicht mehr sicher", murmelte Lia und sah traurig aus dem Fenster.
Draußen schien die Sonne.
Ein paar Menschen gingen fröhlich quatschend am Hotel vorbei.
Ein bunter Vogel saß auf einer Palme und zwitscherte.
In der Ferne glitzerte das Meer.
"Du allerdings vielleicht auch nicht mehr. Schließlich bist du meine beste Freundin", sagte Lia leise nach einer Weile. Ihre Augen waren noch nicht getrocknet.
Runa schnappte nach Luft. "Aber... Ich bin doch ein guter Mensch! Wie kann Tanja nur so skrupellos sein und mich töten wollen, nur weil ich deine Freundin bin? Das ist doch Freiheitsberaubung! Tanja ist ein Unmensch!", rief sie.
Lia nickte. "Wahre Worte. Tanja ist skrupellos. Und sie ist ein Unmensch."
Runa konnte es noch immer nicht fassen, wie böse Tanja war. Wie wild mit den Armen gestikulierend lief sie auf Jenny zu, die immer noch seelenruhig auf dem Sitzsack saß und mit dem Mann namens Karsten Video-Chat machte.
"Jenny", rief Runa, "glaub mir, Tanja ist so böse, die will mich unbedingt töten, einfach so abschlachten, nur weil ich vielleicht mit Lia befreundet bin!"
Jenny hörte nur mit halbem Ohr zu. "Das ist echt mies", sagte sie leichthin.
Runa explodierte fast vor Wut. "Total mies!", schrie sie.
Charlotte, Carla und Anne gingen am Strand spazieren. Merle hatten sie im Hotel gelassen.
"Wer ist denn jetzt der Vater von Merle?", fragte Carla.
"Wir sagen es auch niemandem weiter!", versprach Anne. Die beiden waren jetzt schon seit Minuten damit beschäftigt, Charlotte, der das Thema sichtlich unangenehm war, mit Fragen zu durchlöchern.
Charlotte schwieg.
"Bitte, bitte, bitte, Sag's uns!", flehte Anne.
"Ist doch nicht so schlimm, dass du's sagst!", sagte Carla.
"Ich möchte gerade nicht darüber sprechen. Es ist geheim", sagte Charlotte knapp.
"Geheim? Das macht es ja noch spannender!", rief Carla.
"Ja, das ist richtig aufregend!", stimmte Anne ihr zu.
"Mann ey, es ist geheim und geheim heißt geheim! Punkt!", sagte Charlotte mit genervtem Unterton.
"Das wissen wir", sagte Anne.
"Dass geheim geheim bedeutet, wissen wir", erklärte Carla.
"Jetzt lasst uns doch mal das Thema wechseln. Über Merles Vater möchte ich zurzeit nicht reden. Es gibt ein Geheimnis um ihn", sagte Charlotte.
"Ja, gut, wir haben verstanden, wir reden nicht mehr darüber, Ehrenwort", sagte Anne und Carla nickte eifrig.
"Puh", machte Charlotte.
Die drei liefen noch eine Weile still nebeneinander her, dann sahen sie plötzlich, wie sich ihnen langsam jemand näherte.
"Das ist Vera!", flüsterte Charlotte alarmiert.
"Was sie wohl will?", wunderte sich Carla.
Anne versteckte sich panisch hinter einem kleinen Strauch und zog Charlotte und Carla zu sich.
Doch zu spät. Vera hatte die drei schon gesehen. Allerdings schien sie nichts böses im Sinn zu haben. Sie ging friedlich lächelnd auf sie zu. Entgegen Annes Erwartungen blieb sie jedoch nicht vor ihnen stehen, sondern lief einfach an ihnen vorbei und sagte in einem Tonfall, als ob sie gute Freunde wären: "Hi, wie geht's?"
"Äh... hi", stotterte Anne.
"Hi Vera", sagte Carla verdattert.
Charlotte starrte Vera irritiert an. Sie konnte gar nicht verstehen, warum Vera denn plötzlich keinen Streit anfing. Sie hatte schon ganz vergessen, dass sie sich mit ihr für immer vertragen hatte. "Das muss eine List von Vera sein!", raunte sie Carla und Anne zu, als Vera außer Sichtweite war. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jetzt ganz plötzlich friedlich geworden ist! Das muss einfach eine List sein!"
Paula wartete einen Moment, dann erschien Evas Kopf auf dem Bildschirm ihres Handys.
"Wann kannst du zu mir fliegen?", fragte Paula. "Mir ist total langweilig ohne dich und Maria."
"Übermorgen", antwortete Eva.
"Toll! Während du noch nicht da bist, werde ich mir wahrscheinlich mit Greta und Christina die Zeit vertreiben. Die haben immer ein paar interessante Geschichten auf Lager", erzählte Paula.
"Cool. Mir ist übrigens auch langweilig", sagte Eva.
"Kann ich mir denken", sagte Paula.
"Tschüss", sagte Eva.
"Bis übermorgen", sagte Paula. Seufzend steckte sie ihr Handy in die Hosentasche. Die arme Eva. Die kann nur rumsitzen und sich langweilen, dachte sie und biss in ein Stück Melone, das sie sich geschnitten hatte, bevor sie mit Eva Video-Chat gemacht hatte.
Stella und Nek gingen mit einem Sonnenschirm an den Strand. Dort breiteten sie eine Picknickdecke aus und legten sich unter den Sonnenschirm.
Nek las sein Buch und Stella sah nach, wie viele Follower ihr Video gelikt haben. Als sie ihr Handy weglegte und ihre Sonnenbrille zurechtrückte, fragte sie Nek: "Sag mal, wie lange liest du dieses Buch jetzt eigentlich schon?"
"Ich hab es neu angefangen. Letztes Jahr hab ich nicht alles verstanden", antwortete Nek.
Lina sprang wütend auf. Sie konnte den Knoten in ihrem Schnürsenkel nicht lösen. "Help! Julia! Hilfe! Can you help me please?! HILFE!", schrie sie.
"Ja, ich komme gleich, ich muss Mark nur noch fünf Herzchen schicken, ja?", sagte Julia und tippte fünfmal auf den Herzchen-Emoji.
Lina schrie aus Leibeskräften weiter. "Hilfe! Ich kriege meinen Schnürsenkel nicht auf! Helft doch mal! Heeelp!"
"Brauchst schon nicht so schreien, ich komme ja gleich, aber Mark hat mir noch sieben verliebte Smileys geschickt und ich muss ihm unbedingt zurückschreiben!", sagte Julia.
"H-E-L-P!", krakeelte Lina.
"Komme!", rief Tanja.
Lina sah, wie sie angerannt kam. "Ah, äh, erspar dir die Mühen! Bleib da, wo du bist! Ich sehe schon, dass du, äh, sehr beschäftigst bist!", rief sie ihr zu.
Tanja lachte laut auf. "Ja, genau, ich bin sehr beschäftigt!"
Lina nickte gespielt ernst und blickte zu Julia, die eifrig zehn verliebte Smileys und sechs rote Herzchen an Mark schickte. "Äh, ja, und du bist auch sehr beschäftigt, Julia. Es kommt bestimmt noch irgendwer anderes", sagte sie. Gleich darauf begann sie wieder draufloszuschreien. "Hilfe! H-I-L-F-E!"
Vera kam angerannt.
"Los! Mach schon!", rief Lina ungeduldig.
Vera beeilte sich, doch der Knoten ließ sich nicht so leicht lösen.
"Geht's auch schneller?", fragte Lina.
"Äh, nee, ich glaube nicht", anwortete Vera.
"Also, so frech kenn ich dich gar nicht!", beschwerte sich Lina.
"'tschuldigung", sagte Vera kleinlaut.
Ein paar Sekunden vergingen. Dann fragte Lina: "Na, wird's bald?"
"Ja, ich hab's gleich", murmelte Vera.
Wieder vergingen ein paar Sekunden, dann war der Knoten gelöst und Lina konnte sich die Schuhe zubinden.
"Bitteschön", sagte Vera zufrieden.
Anstatt sich zu bedanken stolzierte Lina undankbar davon und sagte gespielt wütend: "Na schön! Nicht mal eine vernünftige Schleife! Ich muss wohl über meine Füße stolpern!
Vera sah ihr fassungslos hinterher. "Aber..."
Lina stellte sich zu Julia. "Danke, Julia, dass du mir helfen wolltest!", sagte sie.
"Bitte", sagte Julia und schickte Mark zwei Smileys mit Herzchenaugen.
Vera zuckte mit den Schultern. "Da kann ich wohl nichts machen", sagte sie und ging wieder zurück zum Hotel.
In der Lobby stand Vanessa, die von Tanja und Isabella festgehalten wurde.
Lia, Jenny, Runa und Lisa standen um sie herum.
"Ich habe sie gesehen! Sie hat deinen Edelstein gestohlen!", rief Tanja an Lia gerichtet.
"Auch wenn du meine Feindin bist, glaube ich dir", sagte Lia ernst. "Der Edelstein war von meinem Vater."
"Was hat Vanessa gemacht?", fragte Vera, die nicht richtig verstanden hatte, worum es ging.
"Sie hat Lias Edelstein von ihrem toten Vater gestohlen! Tanja kann es bezeugen!", rief Runa.
"Ich auch", sagte Isabella.
"Früh am Morgen, als Lia, Runa und Jenny noch schliefen, habe ich gesehen, wie Vanessa verdächtig nah an Lias Zimmer vorbeigelaufen ist!", erzählte Tanja. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten merkwürdig. Immer wieder ließ Tanja ihre Hand unauffällig in ihre Hemdtasche gleiten, als ob sie sichergehen wollte, dass irgendetwas noch drin war.
"Ja, sie ist sogar richtig viel auf und ab gelaufen. Ich dachte mir schon, dass da was faul ist", sagte Isabella.
"Ich habe den Edelstein nicht gestohlen! Ich war dort, weil ich meine Jacke holen wollte, die ich am letzten Abend dort vergessen hab! Ich bin hin und her gelaufen, weil sie an dem Ort, wo ich dachte, dass ich sie dort gelassen hab, nicht war und ich sie deswegen noch suchen musste", rief Vanessa.
"Ich glaube nicht, dass Vanessa lügt. Sie ist ein ehrlicher Mensch. Lasst sie los, sie ist unschuldig", sagte Vera.
Lisa stellte sich neben sie. "Ich stimme zu. Vanessa ist keine Diebin. Sie wurde zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt", sagte sie.
Tanja, Isabella, Jenny, Runa und Lia beachteten die beiden nicht.
Runa rief die Polizei an. Die war sofort zur Stelle, hörte sich die Zeugenaussagen an und nahm Vanessa fest.
"Ich bin unschuldig!", rief Vanessa immer und immer wieder.
"Ja! Das stimmt!", rief Vera.
Es brachte nichts. Die Polizisten legten Vanessa Handschellen an, zwangen sie, in das Auto einzusteigen und brausten davon. Schon bald war das Polizeiauto nur noch als kleine graue Staubwolke am Horizont zu sehen.
Mit hängenden Schultern gingen Vera und Lisa in ihr Hotelzimmer.
"Vanessa ist zu hundert Prozent unschuldig, das sage ich dir", sagte Vera.
"Ja, du hast vollkommen Recht", stimmte Lisa ihr zu. "Vanessa ist zu hundert Prozent unschuldig."
"Oder eher zu tausend Prozent", verbesserte Vera.
"Oder zu einer Million Prozent", sagte Lisa. "Aber das macht jetzt ja auch keinen Unterschied mehr."
Vera nickte traurig.
Lisa schaltete den Fernseher an und klickte auf den erstbesten Film, der sich anbot. "Ein Film wird uns jetzt helfen, Vanessas Festnahme zu verdauen", murmelte sie.
Leider war der Film ein schrottiger Horrorfilm und hob die Laune nicht, sondern machte sie nur noch schlimmer. Langsam hielt Vera die brutalen und traurigen Szenen nicht mehr aus und ging nach draußen, um ihren Kopf durchzulüften.
Draußen konnte sie sich aber auch nicht freuen, denn plötzlich hörte sie, wie hinter ihr Charlotte zu Carla und Anne sagte: "Jetzt bin ich mir absolut sicher: Vera plant irgendetwas! Es kann einfach nicht sein, dass sie plötzlich nett geworden ist und keine Streite mehr anfängt. Das kann einfach nicht sein, versteht ihr? Das kann einfach nicht sein! Das muss eine Falle sein!"
Vera drehte sich um. "Das ist keine Falle! Ich bin wirklich nett geworden!", protestierte sie.
"Misch dich nicht ein! Unser Gespräch geht dich nichts an! So was von gar nichts!", schrie Charlotte.
"Was geht sie nichts an?", fragte Tanja, die urplötzlich aufgetaucht war.
Charlotte erzählte ihr ihren Verdacht.
Judith breitete die Arme aus. "Abdul!", rief sie.
"Judith!", rief Abdul. Er und seine Freunde waren in die Bahamas gereist, da er und Karsten hier Freundinnen hatten.
"Warum seid ihr hergekommen?", fragte Judith.
"Ist doch klar: Wir haben euch vermisst. Und Lukas und Timon wollten einfach so auch mal in die Bahamas", erklärte Abdul. Plötzlich drehte er sich um. "Übrigens, wo wir gerade schon von Lukas reden, wo steckt der eigentlich? Karsten hat gesagt, er geht zu Jenny und Timon geht zum Strand, das weiß ich, aber Lukas?", wunderte er sich.
"Ähem", sagte Judith, "wer ist Lukas?"
"Öh... Lukas ist der Schwarzhaarige aus Taiwan von unserer Gruppe", sagte Abdul.
"Vera kommt auch aus Taiwan!", rief Judith.
Abdul zuckte mit den Schultern. "Kann sein. Ich kenne Vera nicht."
Vera ging an den Strand. Dort rekelte sie sich im Sand und strampelte mit Armen und Beinen. "Uaaarghs! Heute ist so ein schrecklicher Tag! Lina bedankt sich nicht bei mir, sondern bei Julia, Vanessa wird festgenommen, der Film, den Lisa angeschaltet hat, ist schrecklich traurig und brutal und Charlotte verdächtigt mich, obwohl ich unschuldig bin! Es ist zum heulen!", rief sie.
Niemand sah, wie sie kämpfte.
Mit sich selbst.
Mit der Welt.
Mit ihren Gedanken.
Und mit den Tränen.
Oder sah sie doch jemand? Vera fühlte sich irgendwie beobachtet. Langsam stand sie auf. "Wer bist du, Beobachter?", wisperte sie.
"Ich", klang es ganz undeutlich in ihren Ohren. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie wusste es nicht. "Ich bin so... komisch... mekwürdig. Warum bilde ich mir Sachen ein?", flüsterte Vera.
"Du bist nicht komisch oder merkwürdig", hörte sie wieder eine Stimme sagen. Irgendwoher kannte sie diese Stimme. Sie wusste bloß nicht mehr woher... "Wie ärgerlich! Woher kenne ich diese Stimme?", sagte sie und machte sich auf den Weg in ihr Hotelzimmer. Gerade als sie sich auf die Couch legen wollte, um sich auszuruhen, düdelte ihr Handy. Vera ging ran. "Hallo?", fragte sie. "Hier Vera Wang."
"Wer bist du?", fragte Vera.
"Ich bin der Beobachter", antwortete die Stimme.
"Was heißt das, der Beobachter?", wollte Vera wissen.
"Ich bin der, mit dem Veronika, Robert und Valentina nicht spielen wollten", erklärte die Stimme und legte auf.
Vera legte ebenfalls auf und legte sich auf die Couch. Sie fand den Anruf sehr rätselhaft. Woher kenne ich bloß diese Namen? Und diese Stimme? Und warum mag ich diese Stimme? Und warum kommen mir die Namen, Veronika, Robert und Valentina so vertraut vor? Und warum erinnert mich das ganze an meine Kindheit?, fragte sie sich. Sie schauderte. Ihr war die Sache nicht geheuer.
Lisa, die inzwischen aufgehört hatte, Fernsehen zu gucken, sagte zu ihr: "Du siehst so verwirrt aus. Geh mal an die frische Luft und ordne deine Gedanken."
Vera folgte ihrem Rat und ging nach draußen. Plötzlich wurde sie von einer Hand am Arm gepackt und in ein Dickicht gezogen. Sie schaute direkt in die Augen ihres Bruders. "Hä?", rief sie.
"Ja, genau", sagte ihr Bruder.
Da setzten sich in Veras Kopf alle Puzzleteile zusammen: Die Stimme war die ihres Bruders gewesen und die Namen kamen ihr so vertraut vor, da sie die ihrer Geschwister waren. Ihr erschien ein sehr verschwommenes Bild: Sie spielte mit ihrer kleinen Schwester Valentina, ihre große Schwester Veronika tummelte sich mit ihren Freundinnen, ihr großer Bruder Robert spielte mit seinen Kumpels aus der Schule Fußball und ihr jüngerer großer Bruder saß im Schneidersitz auf dem Boden und spielte mit seinem Spielzeugauto.
Sie blinzelte ein paar mal, dann verschwand das Bild wieder. "Hä?", rief sie, diesmal noch viel lauter und verwirrter.
"Ja, genau", wiederholte ihr Bruder. Dann mussten sie beide lachen.
Als sie sich beruhigt hatte, sagte Vera: "Lukas, du..." Weiter kam sie nicht. Ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte.
"Ich?", fragte Lukas.
"Du... warum hast du mir nicht deinen Namen gesagt?", fragte Vera.
"Ich dachte, dass du von alleine drauf kommst. Aber weil du offensichtlich nicht drauf kommen konntest, musste ich dir Tipps geben", antwortete Lukas.
"Und warum hast du mich verfolgt?", fragte Vera.
"Ich wollte wissen, was du machst. Als ich gemerkt hab, dass du gemobbt wirst und deswegen traurig warst, hab ich dir gesagt, dass ich das schlecht finde", erwiderte Lukas.
"Aber warum wolltest du mich trösten?", wollte Vera wissen. "Ich hab doch nie mit dir gespielt oder so."
"Na ja, du bist halt aus der Familie", sagte Lukas.
Lukas ist so komisch! Aber das war er schon immer. Er macht immer so komische Sachen, die niemand versteht. Nicht mal er selbst.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Lukas: "Ich bin eben so ein Mensch."
Vera steigerte sich immer weiter in ihre Gedanken rein. Sie verstand gar nicht mal so richtig, was Lukas gesagt hatte. Vielleicht hat er sogar ein psychisches Problem!, dachte sie. Vielleicht ist er psychisch so gestört, dass er ein Dieb ist! Ja, ein Dieb! Ha! Ein Dieb! Ein Dieb. Ein Dieb... Moment mal... Ein Dieb... Ein Dieb! Ein Dieb? Plötzlich kam ihr ein Verdacht. "Du, Lukas, hast du Lias Edelstein gestohlen? Und den Verdacht auf Vanessa gelenkt?", fragte sie eindringlich.
"Wie kommst du denn darauf?", fragte Lukas verdutzt.
"Los! Sag! Hast du den Edelstein geklaut?", rief Vera.
"Nein! Ehrlich nicht! Aber warum verdächtigst du mich?", rief Lukas.
"Gib es zu! Gib es zu! Gib es zuuu!", schrie Vera.
"Vera! Das ist Vertrauensbruch, dass du mich verdächtigst! Und Freundschaftsbruch! Ich hab nichts gemacht!", rief Lukas. Er wollte aus dem Dickicht rennen, doch Vera hielt ihn fest. "G-I-B E-S Z-U!", schrie sie so laut sie konnte.
Lukas hob die Hände. "Vera, warum glaubst du mir denn nicht? Du bist meine Schwester! Ich bin kein Dieb! Ich hab nichts geklaut! Ich bin unschuldig!", protestierte er.
Vera legte den Kopf schief. "Und was, wenn ich einen Beweis habe?", fragte sie.
Lukas schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Dann ist er gefälscht! Ich bin dein Bruder! Ich... Warum tust du so was? Das ist eine Verschwörung!"
"Der Beweis ist, dass Karsten dir bestimmt von Lia erzählt hat, die mit seiner Freundin Jenny in einem Hotel wohnt", sagte Vera.
"Ja, das stimmt, aber er hat mir nicht gesagt, dass sie einen Edelstein besitzt", sagte Lukas.
"Hmm... Dann hat dir das bestimmt Abdul gesagt, weil er das von Judith weiß", sagte Vera.
"Vera, du... Wenn du im Ernst denkst, ich wäre ein Dieb, dann kannst du nicht meine echte Schwester sein. Die Vera aus meiner Familie hätte das nie getan!", rief Lukas.
"Lukas, ich bin deine Schwester, aber du ein Dieb! Gib es zu, dass du einer bist! Lüg mich nicht weiter an! Ich gehe sowieso mit dir gleich zur Polizei!", zischte Vera.
"Aber... Ich bin ehrlich! Verhafte mich doch meinetwegen, aber wenn ich dann hinter Gittern hocke, wirst du es schon einsehen, dass es jemand anderes war!", rief Lukas.
"Jetzt hör doch mal auf, zu lügen, dass sich die Balken biegen! Ich glaube dir kein Wort!", schrie Vera.
"Vera, wie lange wirst du diese Qual hier noch durchziehen? Zum letzten Mal, ich bin unschuldig!", rief Lukas.
"Bist du nicht! Bist du nicht! Bist du niiicht!", schrie Vera.
"Doch, bin ich! Der Dieb war bestimmt so ein Kommunist, der Lia hasst. Tanja oder so. Der ist alles zuzutrauen. Aber egal wer es auch war, ich war es nicht!", sagte Lukas.
"Lukas, mein letztes Restchen Vertrauen zu dir ist verschwunden! Du bist der Täter!", rief Vera.
Lukas setzte sich hin. "Liefer mich doch der Polizei aus, ich bin trotzdem unschuldig", sagte er.
Es dämmerte.
Rosarote Wolken zogen am Himmel vorbei.
Ein Papagei landete auf einer Palme.
Eine große, glitzernde Qualle wurde an Land gespült und dadurch für alle Menschen sichtbar.
Zwei kleine Krebse spazierten nebeneinander am Strand entlang. Sie sahen wie ein Liebespärchen aus. Bei diesem Anblick konnte Vera nicht länger zornig bleiben. Die Krebse waren einfach zu niedlich. "Na gut, Lukas. Du hast gewonnen. Ich gebe dir noch eine Chance. Aber wehe, du bestielst auch noch mich", sagte sie.
Lukas stieg aus dem Dickicht...
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